Der Siegeszug der Armbanduhr

Unabhängig davon, wie viele ikonische Armbanduhren um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert entstanden sind: Die Armbanduhr hatte es nach wie vor schwer gegen die Taschenuhr und konnte sich kaum bis gar nicht durchsetzen. Vereinzelte Träger von Armbanduhren galten als feminin, als Paradiesvögel, als stillose Nacheiferer, die einfach nur einem neumodischen Trend hinterher laufen. Das alles änderte sich schlagartig, als es zum „großen Krieg“ kam. Der 1. Weltkrieg zeigte auf vielerlei Weise die klaren Nachteile der Taschenuhr auf und sorgte schlussendlich dafür, dass der Siegeszug der Armbanduhr beginnen sollte. Zwar hatte es auch vor 1914 bereits militärische Auseinandersetzungen zwischen Staaten gegeben, bei denen Taschenuhren zur Zeitmessung zum Einsatz gekommen waren; der 1. Weltkrieg war jedoch die erste kriegerische Auseinandersetzung, in der gigantische Truppenmassen gezielt gesteuert werden mussten, um den Sieg auf dem Schlachtfeld erringen zu können. Die Dimension, die der 1. Weltkrieg im Hinblick auf die beteiligten Kräftemassen erreichte, war zuvor nie erreicht worden. Entsprechend war ein zeitlich genau koordiniertes Vorgehen entscheidend. Bei der Planung einer Bewegung mit wenigen hundert Truppen dürfte es auf Grund der begrenzten räumlichen Ausdehnung der Kräfte ausreichen, wenn vereinzelt Taschenuhren zur Verfügung standen. Wenn jedoch mehrere zehntausend Soldaten anhand eines vordefinierten Schlachtplans geführt werden sollen, muss jeder Soldat zu jeder Zeit die Möglichkeit haben, die aktuelle Uhrzeit ablesen zu können, um die eigenen Befehle getreu dem Kommandoplan umsetzen zu können. Und genau bei dieser Aufgabe, die sich als so wichtig in der Führung zwischenstaatlicher Kriege herausstellen sollte, versagte die Taschenuhr auf ganzer Linie.

Die meisten Taschenuhren um 1914 waren aus einer Gold- oder Silberlegierung. Edelstahl war viel zu schwer zu bearbeiten und eine Taschenuhr war stets auch das wichtigste Schmuckstück für einen Mann. Die mangelhafte Widerstandsfähigkeit dieser Uhren kam schnell an ihre Grenzen, sodass die Taschenuhren in einer Innentasche der Jacke getragen werden musste, um diese vor Beschädigungen zu schützen. Aber was passiert, wenn man die Uhrzeit ablesen möchte? Dann muss man die Uhr aus der Innentasche der Jacke herausnehmen – und das war um 1914 herum bei weitem nicht so einfach wie heute! Mehrere Lagen an Uniform, Jacke, Jackett und Mantel mussten durchwühlt werden, um die sorgsam geschützten Taschenuhren herausholen und die Uhrzeit ablesen zu können. Das ist nicht nur umständlich und nervig, sondern dauert auch seine Zeit. Eine am Handgelenk getragene Uhr ist nicht nur jederzeit ohne Probleme ablesbar, sondern kann sogar mit dem Zifferblatt nach unten getragen werden, sodass selbst mit Schusswaffe im Anschlag noch die Uhrzeit abgelesen werden kann. Zwar waren die damaligen Armbanduhren kaum besser geschützt oder gepolstert als die Taschenuhren zu jener Zeit – einen Nachteil hatten die kleinen Armbanduhren aber auch nicht. Mithin waren die erste Armbanduhren im 1. Weltkrieg ohnehin einfach nur kleinere Taschenuhren, deren Zifferblatt um 90 Grad gedreht wurde (damit die Krone auf der rechten Seite sitzt) und die feste Stege erhalten hatten, durch die ein Lederband gezogen wurde. Auf diese Weise konnte man die Zeitmesser am Handgelenk tragen und das Ablesen der Zeit war nicht nur bedeutend einfach, sondern auch schneller möglich als zuvor. Diese Entwicklung sorgte endgültig für den Durchbruch der Armbanduhr, denn schnell setzte sich der praktische Vorteil der Armbanduhr im Alltag durch und verdrängte zunehmend die Taschenuhr. Bereits ab 1918 gingen die Verkaufszahlen für Taschenuhren jedes Jahr zurück, während immer mehr Armbanduhren verkauft wurden. Bereits um 1930 hatten die Schweizer Exporte von Armbanduhren die Exporte von Taschenuhren überholt und nur wenige Jahre später schrumpfte das Marktvolumen für Taschenuhren auf ein homöopathisches Maß zusammen. Bereits im 2. Weltkrieg war die Armbanduhr ein fester Bestandteil der Ausrüstung praktisch aller Soldaten – kaum jemand dürfte sich in einem Schützengraben, einem Zerstörer oder einer Messerschmitt eine alte Taschenuhr statt der modernen und deutlich einfacher ablesbaren Armbanduhr gewünscht haben.

Der nächste Evolutionsschritt der Armbanduhr erfolgte in den 1970er Jahren und hatte für die meisten Unternehmen und Beschäftigten in der Uhrenindustrie keineswegs positive Auswirkungen. Die sogenannte „Quarzkrise“, verursacht durch die ersten kommerziell verfügbaren Quarzuhren aus Japan, kostete hunderte Unternehmen ihre Existenz und brachte beinahe die komplette zentraleuropäische Uhrenindustrie an den Rand ihres Untergangs. Während es vor der Quarzkrise rund 1.600 große und kleine Uhrenhersteller in der Schweiz und anderen zentraleuropäischen Ländern gab, sank diese Zahl auf nur noch rund 600 am Ende der Quarzkrise ab. Im Hinblick auf die Präzision konnten mechanische Uhren einfach nicht mit den viel billigeren Quarzuhren aus Asien mithalten. Während eine extrem leistungsfähige mechanische Uhr heute eine maximale Gangabweichung von rund zwei Sekunden pro Tag aufweist, weichen Quarzuhren oft nur wenige Sekunden pro Jahr von der regulären Uhrzeit ab. Erst die Neuinterpretation ihrer Produkte als Luxusgüter konnte die Uhrenindustrie retten und sicherte den Aufschwung, der bis heute anzuhalten scheint. In einer Welt, in der die globale Mittelschicht wächst und immer mehr Menschen rund um den Globus sich westlichen Luxus leisten können und wollen, profitieren Hersteller von Luxusuhren natürlich deutlich mehr als Produzenten einfacher Quarzuhren. Seiko, die Marke, die ursprünglich die Quarzkrise ausgelöst hat, ist heute jedoch auch einer der bekanntesten und beliebtesten Hersteller von Automatikuhren – sowohl in der unteren Preisklasse mit den legendären Seiko 5 Sports Uhren, als auch im Luxusbereich mit der noblen Tochtermarke Grand Seiko.

Im Jahr 2015 setzte der kalifornische Elektronikhersteller Apple mit der Apple Watch an, den Markt für Armbanduhren erneut zu revolutionieren. Die Apple Watch ist heute eine der am häufigsten verkauften Uhren auf der ganzen Welt, womit Apple der größte Uhrenhersteller der Welt ist. Für die meisten Fans herkömmlicher mechanischer Uhren ist eine Apple Watch zwar sicher keine Alternative zu einer Automatikuhr, dennoch hat die Apple Watch als nützliches Gadget durchaus ihre Daseinsberechtigung. Selbst einige Uhrenfans tragen gerne ihre Smart Watches, egal ob beim Sport, im Job oder in der Freizeit.

Heute ist die Uhrenindustrie ein komplexes Gebilde, das nicht nur viele Milliarden Euro weltweit umsetzt, sondern insbesondere in den letzten Jahren einer heftigen Konsolidierungswelle unterzogen wurde. Viele der etablierten Marken haben längst die Hände ihrer Gründerfamilien verlassen und gehören heute zu multinationalen Konzernen. Die Schweiz ist auch heute noch der Dreh- und Angelpunkt der klassischen Uhrenindustrie: Im Jahr 2022 gehörten rund 700 Unternehmen in der Schweiz zur Uhrenindustrie, wobei die meisten davon – nämlich 188 – im Kanton Neuenburg / Neuchâtel ansässig sind. Auf Platz zwei steht das Kanton und die Stadt Bern, Rang drei geht an das Jura. Mit fast 61.000 Mitarbeitern gehört die Uhrenindustrie zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen des Landes. Obwohl die Zahl der aus der Schweiz exportierten Luxusuhren in den letzten Jahren etwas rückläufig war, konnten die Uhrenhersteller ihre Umsätze auf neue Rekorde steigern – die ständigen Preiserhöhungen werden von den Käufern mitgetragen und der Appetit auf Luxusuhren bleibt in vielen Ländern der Welt auch weiterhin ungebrochen. Davon profitieren jedoch nur eine Hand voll Marken – andere dagegen können ihren Marktanteil seit Jahren nicht steigern oder stagnieren sogar seit längerer Zeit.